Schon
vor der Einführung der Pflegeversicherung gab es bei der Frage der Einbindung
von Menschen mit Behinderung als Leistungsberechtigte große Unsicherheiten. Die
gesetzlichen Regelungen, die folgten, sind diesbezüglich immer noch
unzureichend. Eine Koordination des Sozialrechts, die auch das Verhältnis
Pflege und Eingliederungshilfe nach dem SGB XII eindeutig klärt, ist noch nicht
gelungen. Die geltenden Bestimmungen werden der Lebenslage vieler Menschen mit
Behinderung nicht gerecht.
In dieser Situation suchen die Leistungsträger der Eingliederungshilfe nach
Möglichkeiten, den steigenden Aufwand für sich zu Lasten der Pflegeversicherung
zu verringern. Dies führte in Baden-Württemberg schon vor längerer Zeit zum
Modell "Binnendifferenzierung". Aktuell wollen die Leistungsträger
einen neuen Einrichtungstyp, Fachpflegeeinrichtungen für Menschen mit geistiger
Behinderung, etablieren. Sie sollen ausschließlich nach den Bestimmungen der
Pflegeversicherung betrieben werden.
Der Caritasverband der Diözese Rottenburg-Stuttgart nimmt dazu wie folgt
Stellung:
1.
Menschen mit geistiger Behinderung haben auch bei Pflegebedürftigkeit Anspruch
auf Hilfen, die ihren individuellen Bedarfen und ihrem spezifischen Anderssein
in der jeweiligen Lebenssituation entsprechen.
2.
Diesen besonderen Anspruch können die Leistungen zur Teilhabe und die
Eingliederungshilfe nach dem SGB IX und SGB XII vom Grundsatz und der
Zielrichtung her lebenslang erfüllen. Auch in Fällen, bei denen eine umfassende
Pflegebedürftigkeit gegeben ist oder mit zunehmenden Alter Pflegebedürftigkeit
eintritt, erbringen stationäre Einrichtungen der Eingliederungshilfe
ganzheitlich alle erforderlichen Pflege- und Assistenzleistungen.
3.
Daher ist eine Verlegung und stationäre Versorgung in Pflegeeinrichtungen, die
ausschließlich nach den Bedingungen des SGB XI (Stand heute) geführt werden und
der spezifischen Bedarfslage von Menschen mit geistiger Behinderung oder mit
Sinnesbehinderung nicht entsprechen können, abzulehnen.
4.
Nur
wenn
eine Einrichtung der Eingliederungshilfe selbst erklärt, einen
spezifischen Pflegebedarf bei sich nicht abdecken zu können, ist nach § 55 SGB
XII nach einer Alternative zu suchen. Dabei sind angemessene Wünsche des
behinderten Menschen zu berücksichtigen.
5. Die
derzeit
einzige
Alternative in Baden-Württemberg stellen die so
genannten binnendifferenzierten Einrichtungen dar. Nach den Maßgaben der
Pflegeversicherung
und
der Eingliederungshilfe können sie notwendige
behandlungspflegerische Leistungen ebenso erbringen, wie Angebote zur
Tagesstruktur machen, die auf die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderung
zugeschnitten sind.
Die Binnendifferenzierung war und ist immer noch eine politische Lösung, hinter
der unterschiedliche Interessen stehen und die die Handlungsmöglichkeiten für
die Vereinbarungspartner in einem begrenzten Umfang erweitert.
6. Eine
bedarfsgerechte stationäre Versorgung geistig behinderter Menschen muss, wie
bereits angedeutet, auch im Fall ausgeprägter Pflegebedürftigkeit der Tatsache
Rechnung tragen, "dass die Persönlichkeitsstruktur von Menschen mit
geistiger Behinderung wesentlich durch ihr kognitives Anderssein und durch
lebenslang notwendige mitmenschliche Hilfe bei der Lebensbewältigung im
individuellen Bereich und in den kommunikativen Prozessen gekennzeichnet ist.
Vergleichbares gilt für Menschen mit Sinnesbehinderung, die in anderer Weise
mit ihrer Umwelt kommunizieren bzw. diese anders wahrnehmen."
[1]
Viele dieser Menschen leben und wohnen in Einrichtungen der Eingliederungshilfe
über viele Jahre oder sogar den größten Teil ihres Lebens. Die Wohngruppe ist
mitunter Familienersatz.
Auf diese besonderen Anforderungen müssen sich Einrichtungen einstellen können.
7. Das
heißt aber erstens, dass sich bestehende Einrichtungen dafür qualifizieren, und
zweitens, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen diese Qualifizierung
ermöglichen.
8.
Qualifizierungskriterien sind zum Beispiel (zielgruppenabhängig):
·
interdisziplinäre
Zusammensetzung des Betreuungspersonals
·
gleichgewichtiger
Fachkräfte-Mix bestehend aus pädagogischen und pflegerischen Fachkräften.
·
Sicherstellung
einer Tagesstruktur in einem zweiten Lebensraum (unter Beibehaltung/Anwendung
der vorhandenen Leistungstypen der Eingliederungshilfe - LT I 4.5 und 4.6.)
·
spezielle
kommunikative Kompetenzen z.B. für den Umgang mit gehörlosen Menschen
·
Angebot
einer "Häuslichkeit" vergleichbar mit dem ersten Lebensraum in der
stationären Behindertenhilfe
·
Lebenslauforientierte
heilpädagogische Begleitung
9. Für
dieses besondere Leistungsprofil in Orientierung an einer spezifischen
Bedarfsgruppe ist eine leistungsgerechte Finanzausstattung erforderlich.
10. Die
Voraussetzungen dafür, die nötigen gesetzlichen Änderungen wie auch
Landesrahmenvereinbarungen, sind im System der Pflegeversicherung allein zur
Zeit nicht gegeben.
Johannes
Böcker
Diözesancaritasdirektor
Birgitta
Pfeil
Vorsitzende Arbeitsgemeinschaft Hilfen für behinderte und psychisch kranke
Menschen
Jürgen
Kunze
Arbeitsgemeinschaft katholischer Heime und Einrichtungen der Altenhilfe
[1] Aus dem Positionspapier der Arbeitsgemeinschaft Hilfen für behinderte und psychisch kranke Menschen (Juni 2006)