Die Familie pflegen heißt auch durchhalten können
Er lässt durchblicken, dass er keine glückliche Kindheit hatte. Das erste, was Günther Waßmann im Gespräch mit caritas.de über sein Leben erzählt, sind Erinnerungen aus seiner Zeit in der Hitlerjugend. Die Atmosphäre Anfang der 1940er Jahre und das, was ihm damals antrainiert wurde, prägen und beschäftigen ihn bis heute, erzählt der 90-jährige Hildesheimer: "Befehlen Folge leisten und nichts verweigern".
Günther Waßmann in seinem Element – im eigens gegründeten Buchdruckmuseum, in dem Besuchern die Gutenbergtechnik nähergebracht werden soll.
Auch seine Karriere verbindet er mit dieser Zeit. 1945 fing er als 14-Jähriger an, Schriftsetzer bei der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung zu lernen, brachte sich mangels finanzieller Mittel für eine Ausbildung viel autodidaktisch bei. Er arbeitete sich zum technischen Produktionsleiter hoch und übte diesen Posten 25 Jahre lang aus. "Es gab jeden Tag eine Zeitung - und keine Ausreden. Sonntage und Feiertage gab es nicht. Es fühlt sich immer noch so an, als wäre der ganze Stress von damals noch nicht abgebaut."
Trotz der Widrigkeiten, die er im Beruf erfuhr, gibt der lebhaft wirkende Herr mit dem fast schelmenhaften Grinsen gerne Anekdoten aus seinem Arbeitsleben zum Besten. Eigentlich habe er nie aufgehört zu arbeiten, meint Waßmann schmunzelnd. Er ist merklich stolz auf sein Lebenswerk, aber auch darauf, dass er immer noch aktiv ist: Er saß über ein halbes Jahrhundert in Prüfungsausschüssen. Mit Freunden gründete Waßmann zudem ein privates Museum für die Gutenbergdrucktechnik im Gewölbe eines alten Verlagshauses in Hildesheim.
Die Hauptverantwortung für zwei Elternpaare
Zunächst klingt das so, als hätte Waßmanns Leben vor allem aus Arbeit bestanden. Aber auch privat tat sich viel bei ihm: 1954 heiratete er, acht Jahre später kam seine Tochter zur Welt - und einige Zeit später nahm auch das Thema häusliche Pflege einen wichtigen Platz in seinem Leben ein. Erst wurden seine Eltern pflegebedürftig und danach auch die Schwiegereltern.
"Meine Frau war Einzelkind und ‚nur‘ eine Frau. Das waren andere Zeiten. Die Verantwortung der Pflege lag also bei mir. Es hieß immer: ‚Der Günther macht das schon.‘ Ich habe nie frei gehabt." Nach Feierabend fuhr er erst zu seinen und dann zu ihren Eltern, um sich zu kümmern. Hinzu seien Haus- und Gartenarbeit gekommen, die die Eltern nicht mehr allein erledigen konnten.
In der Zeit, in der er beruflich nicht mehr aktiv sein musste, widmeten sich Waßmann und seine Frau vollkommen der Pflege beider Elternpaare. Wie lange diese Belastung insgesamt anhielt, will Waßmann nicht sagen, erwähnt dann aber doch, dass sie vor etwa zehn Jahren endete, als seine Mutter verstarb. Er sagt, ihm fiele es schwer, über diese Zeit zu sprechen: "Die Leute denken dann, dass ich ein großer Aufschneider bin, weil ich laut sage, wie viel ich gleichzeitig geleistet habe."
Günther Waßmann, ehemaliger Setzereileiter bei der Hildesheimer Allgemeinen Zeitung, bei der Arbeit
Auf die eigene Gesundheit beim Pflegen achten
Schließlich lässt er doch durchblicken, wie sehr in diese Jahrzehnte mitgenommen haben: "Die Belastung hat sich in meinem Körper festgesetzt und ich musste aufpassen, dass ich nicht krank wurde. Bin ich dann trotzdem. Erst waren es kleine Sachen, die ich noch allein bewältigen konnte." Als er 79 war, wurde er am Herzen notoperiert. Ein Jahr später bekam er heftige Bauchschmerzen und musste wieder notoperiert werden, diesmal am Darm.
Das Dasein als pflegender Angehöriger war aber zu diesem Zeitpunkt für Günther Waßmann noch nicht vorbei. Es kostet ihn spürbar Überwindung, über die letzten gemeinsamen Jahre mit seiner Frau zu sprechen. Ihren Namen erwähnt er kein einziges Mal.
Leben mit der "schrecklichen Krankheit"
Bei der Frage, an welcher Krankheit sie litt, scheint er zum ersten Mal im Gespräch zu stocken. Zuerst nennt er sie "die schreckliche Krankheit". Dann erinnert er sich, dass sie Alzheimer hatte. Im letzten Stadium schwindet das Langzeitgedächtnis, das Sprachvermögen beschränkt sich immer mehr, der oder die Kranke erkennt vertraute Personen nicht mehr. Kauen, Schlucken und Atmen fallen zunehmend schwer. Hinzu kommen Harn- und Stuhlinkontinenz.
Er erinnert sich, wie es für ihn war, sie zu pflegen: "Man muss lernen zu fühlen, wie man den, der krank ist, behandeln muss. Wie man ihn durch Verständnis beeinflussen kann. Das spielt sich in unserem Gehirn ab. Erst, wenn man in der Lage ist, den anderen mitzufühlen - wie er denkt, welche Schmerzen er hat und welche Symptome da sind, die ihn schwermütig machen - kann man dementsprechend helfen."
"Sie müssen schnell und gleichzeitig empathisch arbeiten"
Vier Jahre lang pflegte Waßmann seine Frau zu Hause - obwohl ihm der ambulante Pflegedienst ihm irgendwann eindringlich riet, die Pflege abzugeben, um sich selbst zu entlasten. Zu Beginn des Krankheitsverlaufs kam nur morgens eine Pflegekraft vorbei, um zu helfen, dann zusätzlich abends. Da es immer anstrengender wurde, wählte Waßmann irgendwann die Option der Tagespflege.
Bald ging auch das nicht mehr. "Ich musste sie schließlich in ein Heim geben. Das war schlimm, ich wollte das eigentlich unbedingt vermeiden." Er fuhr fast jeden Tag 30 km hin und zurück, um sie zu füttern und bei ihrer Pflege zu helfen, wo es möglich war. Sie starb 2018.
Trotz Kritik an einzelnen Pflegekräften, die ihm während seiner Zeit als pflegender Angehöriger begegnet sind, betont er immer wieder, welch große Wertschätzung er für Menschen hegt, die in der Pflege tätig sind. Sie hätten enge Zeitpläne, für jede Pflegemaßnahme sei eine Zeitspanne festgelegt. Den Vorgaben im Tagesplan für seine Frau konnte er selbst kaum gerecht werden. Er erkennt in diesem Zeitdruck auch ein Dilemma für ambulante Pflegekräfte: "Sie müssen schnell und gleichzeitig empathisch arbeiten."
Heute bekommt Waßmann selbst täglich Besuch vom ambulanten Pflegedienst. Er wohnt nun allein in seiner großen Parterrewohnung in Hildesheim. Gehen kann er nicht mehr gut, aber ist sonst fit, fährt noch Auto, und kann sich weitgehend selbstständig versorgen. Er lächelt und tippt sich an die Stirn. Man merkt, der folgende Punkt ist ihm wichtig: "Ich kann nicht für immer unabhängig sein, aber das Wichtigste geschieht im Kopf. Und den muss ich frisch halten. Biologisch kriege ich das nicht ewig hin, aber soweit ich noch selbst aktiv sein kann, werde ich streng mit mir sein."