Private Pflege als Dauerbelastung
Erst ihr Vater, dann ihr Onkel, zuletzt ihre Mutter: Die Pflege von Familienmitgliedern beschäftigte Eva Maria Müller mehr als zwei Jahrzehnte. Doch damit nicht genug: Müller hat sich das Thema Pflege und vor allem deren Zukunft zur Lebensaufgabe gemacht.
Die Oberfränkin arbeitet hauptberuflich in der Pflegewirtschaft im Bereich Entwicklung und Qualitätsmanagement und gründete 2014 zudem den Verein "e2health und Telemedizin Oberfranken", der mit Hilfe der Digitalisierung die Versorgung von Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen verbessern möchte.
Eva Maria Müller gründete 2014 einen Verein, um mit Hilfe der Digitalisierung die Versorgung von Pflegebedürftigen und pflegenden Angehörigen zu verbessern.
Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020 managte Müller, die in einem nordbayerischen 3000-Seelen-Ort nicht weit von Tschechien lebt, zeitgleich ihren Vollzeitjob, ihr ehrenamtliches Engagement und die Pflege ihrer an Demenz erkrankten Mutter. Die Folgen des Virus bedeuteten aber auch für Müller einen entscheidenden Einschnitt.
"Mit einem Dementen im Haus hat man permanent Angst"
"Vor der Pandemie hatte meine Mutter noch soziale Anknüpfungspunkte wie das wöchentliche Kaffeetrinken im Altenheim oder den Gottesdienst. Sie war immer unterwegs. " Wenn die Frau mit den kurzen schwarzen Haaren und den freundlichen Augen über diese Zeit spricht, klingt ihre Stimme belegt: "Das fiel alles auf einen Schlag weg."
Seitdem hatte sie keine ruhige Minute mehr, auch nicht während der Arbeit im heimischen Büro, erzählt Müller: "Mit einem Dementen im Haus hat man permanent Angst. Weil man nicht weiß, was er macht. Ich konnte sie nie allein lassen." Eine Freistellung zur Pflege hat sie bei ihrem Arbeitgeber allerdings nie beantragt, gibt sie zu.
Im Oktober 2020 bricht Eva Maria Müller zusammen. Bevor sie sich selbst hilft, will sie allerdings ihre Mutter versorgt wissen: Noch während der Notarzt im Haus ist, wird Anna Müller* abgeholt und ins Pflegeheim gebracht. Dann liegt Eva Maria Müller eine Woche mit Verdacht auf Herzinfarkt im Krankenhaus: "Das war immer meine Alptraumvorstellung nach Beginn des Shutdowns: Was passiert mit meiner Mutter, falls mir was passiert?"
Mehr Transparenz für Angehörige schaffen
Beim Gespräch mit caritas.de gute sechs Monate später wirkt sie entspannt - aber auch abgeklärt. "Nach 20 Jahren stressbedingter Pflege war irgendwann Schluss. Und seit einem halben Jahr arbeite ich an mir selber, um wieder gesünder zu werden."
Anna Müller lebt seit dem Vorfall im Pflegeheim. Einen gelungenen Start dort hatte sie allerdings nicht: Nach einigen Wochen wurde sie positiv auf Corona getestet. Eva Maria Müller erinnert sich: "Es war schrecklich, weil ich sie nicht sehen konnte. Und dann musste sie Tag um Tag allein in ihrem Zimmer sitzen. Vorher haben wir manchmal über Facetime telefoniert, aber als sie Corona hatte, hat sie vier Wochen lang gar nicht gesprochen."
Inzwischen ist Anna Müller genesen und befindet sich auf einer kleineren "beschützenden Station" für Demenzkranke im Pflegeheim. Man merkt Müller die Erleichterung an, als sie darüber spricht: "Dort ist die Stimmung familiär und der Umgang mit Angehörigen gut. Ich weiß auch mehr darüber, wie es ihr geht."
Transparenz für Angehörige von Pflegebedürftigen ist Müller sehr wichtig: "Bei anderen Heimen ist es oft so: Wenn man anruft, heißt es ‚Deiner Mutter geht es toll‘, und ein paar Stunden später kommt sie ins Krankenhaus. Und du weißt nicht, was los ist." Als Lösung sieht sie die Einsicht in die digitale Bewohnerakte für die Angehörigen. "Da könnten sie sich live über das Befinden informieren."
Die Coronakrise und Bedarfe für die Zukunft
Die negativen Auswirkungen der Coronakrise auf Pflegebedürftige lassen Müller passionierter denn je werden, wenn es um die Projekte ihres Vereins und eine bessere Zukunft für die Pflege geht. Man müsse schon die Architektur von Pflegeheimen anders denken, damit in Krisen wie der aktuellen, Bewohner unter Anderem nicht mehr von der Außenwelt abgeschnitten werden. Außerdem brauche es kleinere Gruppen.
Einen weiteren Schritt nach vorne sieht sie im Einsatz von Künstlicher Intelligenz: "Wenn etwas mit einem Patienten nicht in Ordnung ist, könnte eine KI verschiedene Parameter wie Alter, Wohnort, Vorerkrankungen, etc. und den derzeitigen Gesundheitszustand vergleichen und entsprechend 'reagieren'. Dann hängt das, was mit einem Patienten passiert, nicht nur davon ab, dass jemand 'ein Gefühl' hat."
Man merkt, dass sich Eva Maria Müller viel mit Ideen zur Verbesserung der Pflege auseinandergesetzt hat. Sie wirkt routiniert und sicher, wenn sie ihre Argumente für ihre Vision vorbringt. Aber was sind eigentlich die Hürden dafür? "Fehlende staatliche Unterstützung," kommt es wie aus der Pistole geschossen.
Mit ihrem Verein hat sie schon vor vier Jahren eine Online-Sprechstunde für ein Altenheim eingerichtet, damit sowohl Pflegekräfte als auch Bewohner unkomplizierter mit Ärzten sprechen können. Es besteht hier sogar die Möglichkeit zum Einrichten einer Schnittstelle zwischen Pflegeakten, Ärzten und Angehörigen. "Aber die Schnittstelle hätte damals 30.000 Euro gekostet. Hätten das etwa die Bewohner zahlen sollen?"
Es brauche aber nicht nur Geld, die Pandemie habe die Zustände im Pflegebereich wieder verschlechtert. Und die waren, Müllers Meinung nach, schon vorher nicht progressiv. Es brauche eine echte Reform, die sowohl die Digitalisierung als auch die Generation Y in den Blick nimmt. Ihre Augen blitzen: "Wir müssen raus aus dem 19. Jahrhundert und rein ins 21."
*Name geändert