Es braucht nicht viel um Menschen vor dem Verhungern zu retten. Erdnussbutter, Milchpulver, Öl und Zucker. Mehr nicht. In rot-weißes Plastik verpackt, mit Vitaminen und Mineralien versetzt, entspricht dieses Gemisch in der üblichen 92 Gramm-Packung dem Nährwert von 500 Kilokalorien. Eine Hilfsorganisation kostet es nicht mehr als 50 Euro, ein Kind zwei Monate lang damit zu versorgen. 50 Euro um einem Menschen zwei Monate das Überleben zu sichern.
50 Euro für zwei Monate Leben: Das sollte machbar sein, denkt man.
Selbstverständlich ist das allerdings offenbar nicht. Das zeigt sich im Sommer 2021 erneut anlässlich der driingenden Aufrufe humanitärer Hilfsorganisationen, ein ausreichendes Budget zusammenzutragen, das die Hungernden in Ostafrika retten kann. Und das haben wir schon im Jahr 2017 gelernt, als in Afrika und im Jemen rund 30 Millionen Menschen hungerten. Als der UN-Nothilfekoordinator Stephen O'Brien den Hilfe-Bedarf im März 2017 auf 4,4 Milliarden US-Dollar bezifferte, wurden gerade einmal zehn Prozent der benötigten Summe zur Verfügung gestellt. Die Unterfinanzierung war so dramatisch, dass die Vereinten Nationen im Südsudan den Menschen in den Flüchtlingslagern die Essensrationen kürzen mussten.
Zwei Monate später, im Mai 2017, standen für die Linderung der Hungerkatastrophe zwar 55 Prozent der Mittel bereit. Für die, die Hunger haben, war das ein langer Zeitraum. Weitere entscheidende Monate waren verstrichen, in denen Menschenleben hätten gerettet werden können.
Wir haben den Hunger satt
Die G7-Außen- und Entwicklungsminister*innen schlossen Anfang Mai 2021 den "Pakt gegen Hungersnöte und humanitäre Krisen". Doch wird das Budget reichen? "Wir alle hier haben den Hunger satt", so der Präsident der Caritas in Österreich, Franz Küberl. "Wir sind wütend darüber, dass so viele Menschen einen sinnlosen, vermeidbaren Tod sterben müssen. Deshalb hoffe ich, dass von hier ein starkes Signal ausgeht".
Im Jahr 2020, inmitten der Corona Krise, litten 155 Millionen Menschen in 55 Ländern unter akutem Hunger. Das sind laut dem aktuellen "Global Report on Food Crisis" 20 Millionen Menschen mehr als in 2019. Zusätzlich zu bestehendem Hunger aufgrund von Konflikten und Klimaextremen verschärfen die Covid-19-Pandemie mit ihren wirtschaftlichen Folgen und die Heuschreckenplage am Horn von Afrika die Ernährungskrise von Millionen Menschen. Es braucht daher definitive mehr Geld für lebensrettende Hilfsprogramme und für vorausschauende und flexibel einsetzbare Hilfe.
Wieder einmal stößt die Finanzierung an Grenzen
Die Hungerkrise des Jahres 2017 in Ostafrika und die wieder einmal zu lange Wartezeit während der Pandemie 2020 und 2021 zeigen: Das bisherige System der Finanzierung der Humanitären Hilfe ist an seine Grenzen gestoßen, die Humanitäre Hilfe hat - global betrachtet - systematisch versagt. Wieder einmal. Denn bereits 2011 waren Zehntausende Menschen in Ostafrika aufgrund des späten Eingreifens der internationalen Weltgemeinschaft verhungert. 260.000 Menschen starben damals zwischen Oktober 2010 und April 2012, weil die Hilfe erst sechs Monate nach den ersten Warnungen anlaufen konnte. Der Grund auch damals schon: Das notwendige Geld stand nicht schnell genug zur Verfügung.
Das zögerliche Handeln derer, die in Ostafrika und im Jemen im März 2017 Menschenleben hätten retten können, aber viel zu wenig taten, nannte die "Süddeutsche Zeitung" in einem Meinungsartikel "Unterlassene Hilfeleistung". Der Kommentar zielte vor allem auf die finanzstarken Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen ab, die ihrer (nicht nur moralischen) Pflicht zur Hilfe nicht im ausreichenden Maße nachkamen. Hungernde Menschen sind schließlich Bürger*innen und Bürger unserer Weltgemeinschaft. Sie können sich damit auf das Recht auf Ernährung nach Artikel 25 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte berufen.
Das Versagen der Weltgemeinschaft ist umso unverständlicher als die Hungerkatastrophe damals wie heute kein singuläres Ereignis ist. Die Abläufe und Mechanismen, die aus Krisen Katastrophen werden lassen, sind seit langem bekannt. Umso dringender muss gefragt werden, ob die notwenigen Lehren aus vergangenen humanitären Katastrophen gezogen wurden.
Hunger ließe sich besiegen
Angesichts der geschilderten Erfahrungen in den Jahren 2011 und 2017 erstaunt es einen zunächst, welch große Fortschritte seit den großen Hungersnöten in Äthiopien und Somalia in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren im Kampf gegen den Hunger bereits erzielt werden konnten. Während beispielsweise noch 1984/85 bei der Hungersnot in Äthiopien geschätzt 500.000 bis eine Million Menschen starben, haben sehr viele afrikanische Staaten den Anteil der (chronisch) Hungernden in ihren Ländern in den zurückliegenden Jahren sogar halbieren können. Eine Reihe von afrikanischen Staaten wie Äthiopien und Kenia hatten ihre Lehren aus der Vergangenheit gezogen und scheuen sich mittlerweile nicht mehr, den Ausnahmezustand auszurufen und die internationale Gemeinschaft um Unterstützung zu bitten, wenn sich Hungerkrisen zuspitzen.
Zudem haben Hilfsorganisationen seit den achtziger Jahren bedeutsame Fortschritte in der präventiven Hungerbekämpfung erzielt. Brunnen, Wasserrückhaltebecken, Zisternen, Dämme sowie Getreidespeicher und Silos haben in ihrem Zusammenwirken mit Beratung und Trainings dafür gesorgt, dass Dürren heutzutage weit besser als früher überbrückt werden können. Geldtransfers auf Smartphones, die Ausbildung von Heuschreckenscouts und bargeldlose Einkäufe auf einem Markt per App gehören inzwischen zu den Lösungselementen.
All diese kleinen, dezentral durchgeführten Maßnahmen, wie sie Caritas international sie beispielsweise in Äthiopien, Eritrea, Uganda, Südsudan oder Kenia umsetzt, funktionieren ohne großen technischen Aufwand. Und sie haben zur Folge, dass deutlich weniger Menschen hungern müssen als früher. Und das, obwohl zum Beispiel aufgrund des Klimawandels die Häufigkeit von extremen Wetterphänomenen wie Dürren und Starkregen, und damit die Zahl der vom Hunger bedrohten Menschen deutlich zugenommen hat.
Der Eindruck, der Hunger in Afrika könne nicht besiegt werden, ist nach wie vor weit verbreitet. Leider leistet er einem gefährlichen Fatalismus Vorschub. Dabei wird dieser Eindruck von konkreten Erfahrungen und Statistiken widerlegt.
Tatsächlich haben sich verbesserte Vorratshaltung, effizientere Wassermanagementsysteme und nicht zuletzt aussagekräftigere Frühwarnsysteme als höchst erfolgreiche Elemente einer systematischen Katastrophenvorsorge erwiesen. So konnte bereits 2017 das kostbare Wasser weit länger nutzbar gemacht werden, als das noch in den 80er Jahren möglich war. Auch die Getreide-Vorräte gingen erst später zur Neige. Und nicht zuletzt konnte aufgrund präziser Warnungen bereits Monate vor Zuspitzung der Lage im Februar 2017 vorausgesagt werden, wann wo mit wieviel Geld geholfen werden sollte, um das Sterben von Menschen zu verhindern.
Geld fließt erst, wenn Menschen sterben
Doch wie schon im Jahr 2011 und 2017 verhallten selbst die präzisesten Warnungen auch im Jahr 2021 wieder weitgehend ungehört. Die Hungerkrise trat ein, obwohl sie auf Grundlage von erstaunlich exakten Daten vorhergesagt wurde. Wieder einmal zeigt sich, dass es offenbar doch die Bilder von Rinder- und Schafskadavern braucht, die Blicke verzweifelter Mütter und die Hungerbäuche ausgezehrter Kinder. Ohne diese Bilder ist es kaum möglich, private und öffentliche Geldgeber ausreichend zum Spenden zu bewegen. Erst die Emotion, nicht die Ratio, öffnete die Geldbörsen. Die Autoren einer Studie zur Hungersnot im Jahr 2011 beschrieben den Sachverhalt so: "Viele Geldgeber wollten Beweise für die humanitäre Katastrophe, bevor sie tätig wurden, um sie zu vermeiden."
Nach wie vor führt offenbar erst eine breite Berichterstattung in den Medien über Ausgezehrte und Tote dazu, dass ausreichend Geld in die Hungerbekämpfung fließt. Diese Medienberichterstattung setzt erst ein, wenn der Höhepunkt einer Krise erreicht ist, denn vorher fehlen diese hochdramatischen Bilder. Kurzum: Wie schnell auch immer dann gehandelt wird, wenn solche Bilder über die Fernseher in die Wohnzimmer gelangen - für tausende, zehntausende, womöglich hunderttausende Menschen wird jede Hilfe auf jeden Fall zu spät kommen.
Medienschelte jedoch ist fehl am Platz. Es ist nicht die Aufgabe von Journalist*innen, das Geschäft der Vereinten Nationen, der reichen Industrienationen und der humanitären Hilfswerke zu erledigen. Vielmehr sind antizyklische, von akuten Krisen unabhängige Finanzierungen unverzichtbar, um die notwenigen Dinge in der Katastrophenvorsorge angehen zu können, ohne dass erst um Almosen gebettelt werden muss. Es sind flexible und schnell verfügbare Finanzierungsmechanismen notwendig, die Mittel zur Verfügung stellen, bevor die Krise eingetreten ist.
In die Katastrophenvorsorge investieren
Der globale Weltkrisenfonds bei den Vereinten Nationen, den Entwicklungsminister Gerd Müller 2017 in die Diskussion gebracht hat ("Wir müssen weg vom Klingelbeutel und brauchen feste Zusagen"), sollte deshalb zwar einerseits entschieden begrüßt werden. Andererseits wird der Vorschlag auch mit einer gehörigen Portion Skepsis begleitet. Nicht zuletzt angesichts der traditionell trägen Entscheidungsmechanismen wurde schon damals bezweifelt, dass er umsetzbar ist. leider hat vorausschauendes Handeln in der humanitären Hilfe auch auf anderen Gebieten einen schweren Stand.
So kursiert seit langem schon unter humanitären Helferinnen und Helfern die Faustregel: Wer in die Katastrophenvorsorge einen Euro investiert, der spart in der Nothilfe sieben Euro. Doch noch immer fließt nur ein verschwindend geringer Teil der Mittel, die für die humanitäre Hilfe zum Beispiel von der Bundesregierung bereitgestellt werden, in die Katastrophenvorsorge. Trotz der Erfolge dieser Vorsorge - und Erfolg heißt hier: Leben, die gerettet wurden. 2017 waren es im Haushalt des Auswärtigen Amtes kaum zehn Prozent der insgesamt für humanitäre Hilfe zur Verfügung stehenden Mittel. Tendenz: steigend.
Wer in die Katastrophenvorsorge
einen Euro investiert,
der spart in der Nothilfe
sieben Euro.
Doch selbst wenn ausreichend Geld für eine effiziente Katastrophenvorsorge sowie einen gut ausgestatteten Krisenfonds zur Verfügung stünde, ist auch das noch keine Gewähr dafür, dass die nächste Hungersnot verhindert werden wird. Denn ohne ein entschiedeneres politisches Handeln in Bezug auf die Bürgerkriege in Nord-Nigeria, Somalia, Süd-Sudan und dem Jemen werden die Hungernden kaum zu retten sein. Helfer*innen werden viele Notleidende, selbst unter Inkaufnahme von großen persönlichen Risiken, erst dann erreichen, wenn die Waffen schweigen. Nur wenn die Kriege ein Ende haben, können die Menschen sich wieder um das Getreide auf ihren Feldern und die Tiere auf ihren Weiden kümmern, ohne fürchten zu müssen, ihr Leben dabei zu riskieren.
Durch den Mensch wird eine Hungerkrise zur Hungerkatastrophe
Hunger ist keine Naturkatastrophe. Hunger wird von Menschen verursacht oder aber billigend in Kauf genommen. Der Mensch selbst ist verantwortlich dafür, wenn wetterbedingte Hungerkrisen zur Hungerkatastrophe werden. Auch dieses Jahr ist es so, dass in den von der Covid-19 Pandemie, der Dürre und den Heuschrecken betroffenen und zugleich politisch stabilen Ländern wie Kenia keine nationale Hungersnot ausgerufen werden muss. Es gibt zwar auch dort Menschen, die hungern und Hilfe benötigen. Die Gefahr des Verhungerns ist allerdings für die Menschen in den Bürgerkriegsländern Jemen, Somalia und Südsudan sowie in der Region Tigray in Äthiopien viel größer.
Bislang mangelt es auf Seiten der potenziell einflussreichen Staaten jedoch an Bereitschaft, sich in Bürgerkriege vermittelnd einzumischen. Die Gründe reichen von den ernüchternden Erfahrungen mit politischen wie militärischen Interventionen in der Vergangenheit über handfeste wirtschaftliche Profit-Interessen bis hin zum politischen Ziel, Bündnispartnern wie Saudi-Arabien (im Jemen etwa) oder Äthiopien (im Konflikt um die Provinz Tigray) nicht in den Rücken zu fallen.
Haben wir also gelernt aus den humanitären Katastrophen der Vergangenheit?
Die Antwort lautet: Ja, aber nicht genug. Dabei ist relativ klar, welche Schritte folgen müssten, damit Menschen künftig nicht mehr verhungern müssen: Entschiedenes politisches Handeln einflussreicher Staaten in Kriegen und Konflikten, größere Investitionen in die Katastrophenvorsorge und der Aufbau eines finanziell ausreichend gefüllten und gut gemanagten Weltkrisenfonds. Die Aussichten, dass all diese Schritte gegangen werden, stehen jedoch für die Zukunft nicht besser als in den zurückliegenden Jahren und Jahrzehnten. Oscar Kardinal Rodriguez, Präsident der Caritas Internationalis, warnte angesicht der Lage im Mai 2021 vor einer Eskalation in der Sahelzone: "Wir dürfen nicht warten, bis wir wieder hungernde Kinder im TV zu sehen bekommen".
Autor: Achim Reinke, Pressereferent Caritas international. Für zahlreiche hilfreiche Hinweise danke ich Jürgen Lieser.
Hinweis zur aktuellen Hungerlage 2020 / 2021
In 2020 litten 155 Millionen Menschen in 55 Ländern unter akutem Hunger. Das sind 20 Millionen Menschen mehr als in 2019. Am schnellsten steigt die Zahl der Hungernden in Afrika: Aktuell leiden dort 250 Millionen Menschen unter chronischem Hunger.
- Weltweit hungert also jeder elfte Mensch.
- Zwei Milliarden Menschen haben keinen regelmäßigen Zugang zu sicherer, nahrhafter und ausreichender Nahrung.
- Drei Milliarden Menschen auf der Welt können sich keine gesunde Ernährung leisten.
Diesen bedrückenden Zahlen stehen jedoch auch Erfolge entgegen: Zwar konnte die Zahl der (chronisch) Hungernden seit 1990 gesenkt werden, doch seit fünf Jahren steigen die Zahlen wieder an.
Die Hauptgründe für den Hunger
Der Kampf gegen den chronischen und akuten Hunger erleidet jedoch insbesondere durch Kriege, Naturkatastrophen und die Folgen des Klimawandels immer wieder Rückschläge. So hat sich die Zahl der Naturkatastrophen seit den 90er Jahren auf durchschnittlich 350 pro Jahr verdoppelt. Immer neue (Bürger-)Kriege und politische Krisen wirken sich ebenfalls negativ auf den Kampf gegen den Hunger aus. Hinzu kommten eine verfehlte Handelspolitik (Export subventionierter Agrarprodukte in Entwicklungsländer) und klimaschädliche Konsumweisen (Sojaanbau in Entwicklungsländern für industriellen Fleischkonsum).
Während chronischer Hunger einen dauerhaften Zustand der Unterernährung bezeichnet, der meist im weitesten Sinne auf Armut zurückzuführen ist und rund 90 Prozent aller Hungernden betrifft, meint akuter Hunger den Zustand der Unterernährung während eines abgrenzbaren Zeitraums aufgrund von Kriegen und Naturkatastrophen. Knapp zehn Prozent aller Hungernden sind von akutem Hunger betroffen. Zumeist litten sie bereits zuvor unter chronischem Hunger.
Der aktuelle Nothilfebedarf
... für akut Hungernde wurde von vom Welternährungsprogramm 2020 mit fünf Milliarden Dollar beziffert. Im Jahr 2017 wurde der Bedarf auf 20 Milliarden Dollar geschätzt, im Jahr 2000 waren es zwei Milliarden Dollar. Weitere 10 Milliarden Dollar werden benötigt, um Präventionsprogramme zu ermöglichen, zum Beispiel für unterernährte Kinder und Schulessen, die oft ihre einzige warme Mahlzeit sind.
Was ist eine Hungersnot
Ein besonders extremer Fall der Hungerkrise ist die Hungersnot, die von den UN anhand von klar definierten Kriterien ausgerufen wird:
- Es sterben jeden Tag zwei von 10.000 Menschen
- 30 Prozent der Kinder sind unterernährt
- mindestens 20 Prozent der Bevölkerung haben keinen Zugang zu 2100 Kilokalorien täglich.
Nicht bei jeder Verknappung von Nahrung handelt es sich also um eine Hungersnot.